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Alkoholkonsum in Deutschland und Europa während der SARS-CoV-2 Pandemie

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000686

Abstract

Zusammenfassung.Zielsetzung: Ziel der vorliegenden Studie war, die Veränderung des Alkoholkonsums während der SARS-CoV-2 Pandemie in Deutschland zu untersuchen und mit derer anderer europäischer Länder zu vergleichen. Methodik: Analyse von soziodemographischen und sozioökonomischen Daten sowie Angaben zur Veränderung des Alkoholkonsums seit der Pandemie in einer europaweiten Onlinebefragung (n=40.064) aus 21 Ländern. Zur Anpassung an die Bevölkerungsverteilung in den Ländern erfolgte eine Gewichtung anhand von Geschlecht, Alter und Bildungsabschluss. Ergebnisse: Seit Beginn der Pandemie wurde im Mittel weniger Alkohol getrunken. Der Rückgang des Konsums ist vor allem auf eine Reduktion der Gelegenheiten zum Rauschtrinken zurückzuführen. Der Alkoholkonsum ist in Deutschland weniger stark als in anderen Europäischen Ländern zurückgegangen. Gründe dafür sind Zunahmen im Alkoholkonsum bei Frauen sowie bei Personen, die negative Auswirkungen in Beruf und Finanzen erlebt haben und bei Personen mit riskanten Konsummustern. Schlussfolgerungen: Um den negativen Folgen des in Teilgruppen verstärkten Alkoholkonsums während der Pandemie entgegenzuwirken, sollte die Verfügbarkeit von Alkohol durch eine sinnvolle Besteuerung reduziert sowie eine Ausweitung routinemäßiger Alkoholscreenings in der allgemeinärztlichen Versorgung umgesetzt werden.

Alcohol Use in Germany and Europe during the SARS-CoV-2 Pandemic

Abstract.Aims: The aim of this study was to examine changes in alcohol consumption during the Sars-CoV-2 pandemic in Germany in comparison to changes in other European countries. Method: Analyses of sociodemographic and socio-economic data, as well as reports on alcohol use changes since the pandemic collected through a European online survey (N=40,064) in 21 countries. Weights based on gender, age and education were applied to account for sample bias. Results: Since the beginning of the pandemic, alcohol consumption has decreased on average. The decline is primarily due to a reduction in heavy episodic drinking occasions. As compared to other European countries, alcohol consumption in Germany has declined less sharply. This is mainly due to an increase in alcohol consumption among women as well as among people who report negative impacts on jobs and finances and among people with risky consumption patterns. Conclusion: In order to counter negative consequences of increased alcohol consumption in sub-groups during the pandemic, cutting the availability of alcohol through reasonable taxation and fostering alcohol screening activities in primary health care settings is needed.

Einführung

Mit der SARS-CoV-2 Pandemie hat sich der Alltag und das öffentliche Leben für die meisten Menschen in Deutschland stark verändert. Die Auswirkungen der Pandemie an sich und die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens sind für weite Teile der Bevölkerung nicht nur im sozialen, sondern auch in wirtschaftlichen Bereichen erlebbar. So manifestierte sich bereits im frühen Verlauf der Pandemie ein Einbruch der Konjunktur (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2020) und erste Umfragen zeigten eine zunehmende Unsicherheit in der Bevölkerung und Befürchtungen vor wirtschaftlichen Einbußen (Betsch, 2020). Im europäischen Vergleich scheinen die wirtschaftlichen Folgen in Deutschland dabei weniger stark auszufallen (Eurostat, 2020a; 2020b).

Daten zu indirekten Auswirkungen der Pandemie z. B. auf die psychische und physische Gesundheit in der Allgemeinbevölkerung liegen bislang kaum vor. Ein zentraler Risikofaktor für negative soziale und gesundheitliche Folgen ist der Konsum von Alkohol, auf den in Deutschland 5 % aller Todesfälle (N = 45.000) im Jahr 2016 zurückzuführen waren (Shield et al., 2020). In Ländern mit hoher Prävalenz des Alkoholkonsums können infolge der exponentiellen Zunahme von Krankheitsrisiken mit der Alkoholkonsummenge (Rehm et al., 2017) bereits geringe Konsumveränderungen einen relevanten Public-Health-Effekt haben (Shield, Rylett & Rehm, 2016).

Erste Daten deuten darauf hin, dass der Ein- sowie Verkauf alkoholischer Getränke während der Pandemie gleich geblieben ist (Destatis, 2020) bzw. leicht zugenommen hat (Kecskes, 2020). In einer ersten Umfrage gaben zwei von fünf Personen an, während der Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr 2020 mehr Alkohol getrunken zu haben – im Vergleich zu den 20 % der Befragten, die ihren Konsum verringerten (Georgiadou, Müller, Koopmann, Leménager & Kiefer, 2020). Die Autor_innen erklärten den Anstieg des Konsums durch den während der Ausgangsbeschränkungen erlebten Stress.

Im Kontrast zu dieser Stresshypothese, nach der sich der Alkoholkonsum bei betroffenen Personen erhöhen soll, sprechen andere Faktoren für einen Konsumrückgang (Kilian, Manthey, Braddick, Gual & Rehm, eingereicht): 1) Reduktion der Verfügbarkeit von alkoholischen Getränken und von Trinkgelegenheiten durch Ausgangssperren (keine Besuche von Bars und Restaurants; Einschränkungen im Feiern von Festen, v. a. im öffentlichen Raum); sowie 2) Finanzielle Einschränkungen, z. B. durch Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, wodurch auch die Erschwinglichkeit und damit der Konsum alkoholischer Getränke reduziert wird. Der tatsächliche Effekt wird dabei durch Faktoren, wie der Trinkgewohnheit vor der Krise, dem Stresserleben während der Krise, sowie nicht zuletzt durch Veränderungen in Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit von Alkohol beeinflusst.

In Deutschland sind alkoholische Getränke traditionell unterdurchschnittlich besteuert (Angus, Holmes & Meier, 2019; WHO, 2020a) und damit deutlich erschwinglicher als in anderen EU Ländern (Rabinovich et al., 2009), die wirtschaftlichen Effekte der Pandemie scheinen insgesamt weniger stark ausgeprägt und ein verhältnismäßig geringer Anteil des Konsums ist auf Restaurant-, Bar- und Clubbesuche zurückzuführen (Brewers of Europe, 2019). Vor diesem Hintergrund erwarten wir, dass durch die Pandemie ein Rückgang des Alkoholkonsums in Europa zu verzeichnen sein wird (Kilian et al., eingereicht), dieser jedoch in Deutschland weniger stark sein wird.

Zur Überprüfung dieser Fragestellungen haben wir Daten einer Umfrage ausgewertet, die in 21 Europäischen Ländern gesammelt wurden: Albanien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Norwegen, Polen, Portugal, Russland, Schweden, Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ukraine, und Ungarn (siehe auch Kilian et al., eingereicht). Die vorliegende Arbeit zielt darauf ab, die Veränderungen des Alkoholkonsums in Deutschland während der SARS-CoV-2 Pandemie zu untersuchen und zu prüfen, ob sich Veränderungstendenzen im Alkoholkonsum in Deutschland von denen anderer europäischer Länder unterscheiden.

Methodik

Design und Stichprobenziehung

Bei der europäischen COVID-19 und Alkoholumfrage (www.covid19-and-alcohol.eu) wurde zwischen dem 24. April und dem 22. Juli 2020 (Deutschland: 24. April bis 30. Juni 2020) mittels dem Online-Befragungstool „LimeSurvey“ Angaben zum Alkoholkonsum von Erwachsenen (18 Jahre oder älter) vor und während der SARS-CoV-2 Pandemie erfasst. Die Umfrage wurde in Englisch sowie Deutsch konzipiert und anschließend in weitere 19 Sprachen übersetzt. Zielgruppen wurden über verschiedene Kanäle (z. B. Werbung in sozialen Medien, Rundmails, Pressemitteilungen) erreicht, wobei unterrepräsentierte Gruppen in Bezug auf Geschlecht und Alter über bezahlte Anzeigen in sozialen Medien rekrutiert wurden. Hierzu wurden im Verlauf der Umfrage die Verteilung der Stichprobe nach Alter und Geschlecht mit der entsprechenden Verteilung in der Allgemeinbevölkerung verglichen und somit unterrepräsentierte Gruppen identifiziert. Durch gezielte Werbung über Soziale Medien konnte für Deutschland der Anteil von Personen älter als 40 Jahre gesteigert werden. Eine detaillierte Beschreibung der Rekrutierungsmaßnahmen lässt sich einer entsprechenden Dokumentation entnehmen (Kilian, 2020a). Weitere Informationen zum Studiendesign können dem Studienprotokoll (Kilian et al., eingereicht) sowie den weiteren Studienmaterialien (u. a. den vollständigen Fragebögen) (Kilian, 2020a; 2020b; 2020c) entnommen werden.

Beschreibung der Variablen

Bildung

Der höchste Bildungsabschluss wurde mittels eines dreigestuften Indikators mit den Ausprägungen „Mittlere Reife, Hauptschulabschluss oder kein Schulabschluss“, „Allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife“ und „Universitäts- oder Hochschulabschluss“ erfasst. In anderen europäischen Ländern wurden entsprechende äquivalente Bildungskategorien verwendet.

Einkommen

Zur Berechnung der Variable Einkommen wurde das monatliche Netto-Haushaltseinkommen vor dem Ausbruch der Pandemie (erhoben in 10 Kategorien in 500 € Schritten: von „0–499 €“ bis „4.500 oder mehr“) durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder geteilt. Aus dieser kontinuierlichen Einkommensvariable wurden anhand der länderspezifischen Verteilung drei etwa gleich große Gruppen gebildet (für Deutschland: niedriges Pro-Kopf-Einkommen: 0–1.000 €, mittleres Pro-Kopf-Einkommen: 1.000,01 €–1.750 €, hohes Pro-Kopf-Einkommen: 1.750,01 € oder mehr).

Subjektive Belastung

Die subjektive Belastung hervorgerufen durch die SARS-CoV-2 Pandemie wurde mittels einer binären Variable erfasst („Haben Sie im vergangenen Monat die anhaltende Situation im Zusammenhang mit der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus (umgangssprachlich Coronavirus) als belastend empfunden?“).

Private und berufliche/finanzielle Einschnitte

Zwei weitere Indikatoren wurden eingesetzt, um Belastungen in verschiedenen Lebensbereichen zu erheben: Einschränkungen im Alltag („Haben Sie im vergangenen Monat Einschränkungen in Ihrem täglichen Leben wahrgenommen, die eingeführt wurden, um die Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus (umgangssprachlich Coronavirus) einzudämmen?“) sowie negative Auswirkungen auf die individuelle berufliche oder finanzielle Situation („Haben Sie im vergangenen Monat im Zusammenhang mit der Ausbreitung des SARS-CoV-2 Virus (umgangssprachlich Coronavirus) negative Auswirkungen auf Ihre berufliche oder finanzielle Situation erfahren?“). Beide Variablen konnten auf einer 4-stufigen Skala beantwortet werden („Gar nicht“, „ein wenig“, „erheblich“, „sehr stark“).

Alkoholkonsum

Die Kurzform des Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT-C) (Bush et al., 1998) wurde eingesetzt, um den Konsum von Alkohol in den vergangenen 12 Monaten auf drei zentrale Konsumindikatoren zu erfassen: Trinkfrequenz, durchschnittliche Trinkmenge bei einer Trinkgelegenheit (nachfolgend Quantität), sowie Häufigkeit von Rauschtrinken (definiert durch 6 oder mehr Standardgetränke bei einer Trinkgelegenheit).

Veränderungen im Alkoholkonsum (abhängige Variablen)

Die Veränderung des Konsums wurde analog zu den AUDIT-C Variablen (Trinkfrequenz, Quantität und Rauschtrinken) erfasst, wobei für jeden Konsumindikator die Ausprägung der Veränderung (für Trinkfrequenz und Rauschtrinken: deutlich seltener/seltener/häufiger/deutlich häufiger; für Quantität: deutlich weniger/weniger/mehr/deutlich mehr) oder keine Veränderung angegeben werden konnte (siehe Fragebogen in Kilian, 2020c).

Die Antworten auf die drei AUDIT-C Variablen wurden in einem Summenscore aggregiert, dem die Annahme zugrunde liegt, dass Veränderungen in einem Konsumindikator durch eine Abnahme in einem anderen Konsumindikator ausgeglichen werden kann. Bei einer Person, die angibt „etwas häufiger“ zu trinken und gleichzeitig angibt, dass die Konsummenge pro Trinkgelegenheit „etwas weniger“ geworden ist, würde dieser Indikator keine Veränderung registrieren. Für Personen, die eine oder zwei der relevanten Items nicht beantworteten, wurde angenommen, dass sich der Alkoholkonsum hinsichtlich dieser Indikatoren nicht verändert hat. Personen mit keinen Antworten auf allen drei Items wurden von den Analysen ausgeschlossen (n=128). Die Veränderungsindikatoren wurden auf einen Wertebereich von –1 bis +1 normiert, wobei 0 keine Veränderung des Alkoholkonsums darstellt.

Auswertung

Für die Analyse der Veränderung im Alkoholkonsum wurden Veränderungsindikatoren (Wertebereich –1 bis +1; 0 = keine Veränderung) ausgewertet, welche die Veränderung im Gesamtkonsum, sowie in Trinkfrequenz, Quantität und Rauschtrinken beschreiben. Einstichproben T-Tests wurden berechnet, um zu prüfen, ob sich der gewichtete Mittelwert des Veränderungsindikators in Deutschland von 0, d. h. keine Veränderung, unterscheidet. Zudem wurden Vergleiche mit anderen europäischen Ländern mittels Bonferroni-korrigierten gewichteten Zweistichproben T-Tests gerechnet (p = 1 % / 18 = 0,0006), um Unterschiede in den Veränderungstendenzen zu bestimmen (Abdi, 2007).

Um die Veränderung des Alkoholkonsums über verschiedene Gruppen hinweg zu beschreiben, wurden deskriptive Analysen unter Berücksichtigung von soziodemographischen Variablen (Geschlecht, Alter, Bildung), Einkommen, subjektive Belastung, private sowie berufliche oder finanzielle Einschnitte durch die Pandemie und der AUDIT-C Summenscore durchgeführt. In einem multivariaten linearen Regressionsmodell wurden anschließend die drei soziodemographischen Variablen sowie alle weiteren Variablen mit bivariatem Zusammenhang (p < 0,2) eingeschlossen. Der adjustiere Unterschied in der Veränderung des Alkoholkonsums zwischen Befragten aus Deutschland und anderen Ländern wurde anschließend in einem gemeinsamen multivariaten Regressionsmodells berechnet. Personen mit fehlenden Werten (11,3 %) wurden von den Regressionsanalysen ausgeschlossen. Zusätzliche Analysen wurden durchgeführt, um zu prüfen, ob die Auswertung des Summenwertes als kontinuierliche Variable zu robusten Ergebnissen führt (siehe elektronisches Supplement ESM1).

Alle Daten wurden mit R Version 4.0.2 verarbeitet (R Core Team, 2020). Um Stichprobenverzerrungen zu vermeiden und die Stichprobe an die Bevölkerungsverteilung der Länder anzupassen, wurden die Umfragedaten anhand von Geschlecht, Altersgruppen und Bildungsgrad gewichtet. Eine detaillierte Beschreibung der Gewichte ist andernorts beschrieben (Kilian, 2020b). Die Umfragedaten sowie der Code für die hier dargestellten Ergebnisse sind öffentlich verfügbar bzw. sind dieser Veröffentlichung beigefügt (www.covid19-and-alcohol.eu).

Ergebnisse

Stichprobenbeschreibung

Die europaweite Umfrage wurde von 40 064 Personen beantwortet, wobei 1659 Personen ihren Wohnsitz in Deutschland angaben. In Tabelle 1 sind die ungewichteten sowie die gewichteten Variablen zur Beschreibung der Umfrageteilnehmenden zusammengefasst. Die Verteilung der soziodemographischen Variablen in der deutschen Teilstichprobe entspricht in etwa der Verteilung in der Allgemeinbevölkerung.

Tabelle 1 Stichprobenbeschreibung

Die Verteilung der ausgewählten Variablen zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern war größtenteils vergleichbar, jedoch gaben Studienteilnehmende aus Deutschland häufiger an, deutliche oder sehr starke Einschränkungen im Alltag erlebt zu haben (Deutschland: 76,4 %; andere europäische Länder: 68,4 %; Chi2: 128.1, p < 0,001), wobei deutliche oder sehr starke negative Auswirkungen auf die berufliche oder finanzielle Situation seltener berichtet wurden (Deutschland: 17,2 %; andere europäische Länder: 27,0 %; Chi2: 128.1, p < 0,001).

Veränderung des gesamten Alkoholkonsums

Abbildung 1 veranschaulicht die leichte Reduktion des Alkoholkonsums in Deutschland (Mittelwert = –0,03; Standardfehler = 0,02; gewichteter Einstichproben T-Test: t = –2,2; p = 0,027), gegenüber einer durchschnittlich etwas stärkeren Tendenz zur Konsumreduktion in anderen europäischen Ländern (Mittelwert = –0.09; Standardfehler = 0,01; gewichteter Zweistichproben T-Test: t = 4,9; p < 0,001). Die Abbildung stellt neben der mittleren Veränderung auch die Verteilung der Veränderungsstärke dar. Dementsprechend wird eine deutliche Reduktion des gesamten Konsums in Deutschland (20,2 %) seltener als in anderen europäischen Ländern (24,3 %; Chi2 = 36,6, p < 0,001) berichtet. Im Gegensatz dazu wurde ein deutlicher Anstieg des gesamten Konsums hierzulande etwas häufiger (16,6 %) berichtet als andernorts (13,8 %; Chi2 = 26,5, p < 0,001). Paarvergleiche bestätigen das Ergebnis: 12 Länder (Albanien, Dänemark, Finnland, Island, Italien, Norwegen, Polen, Portugal, Slowakei, Spanien, Schweden, Ukraine) zeigten eine signifikant stärkere Reduktion, während nur in Großbritannien der Konsum anstieg (alle Ergebnisse aus gewichteten, Bonferroni-korrigierten Zweistichproben T-Tests; p < 0,001).

Abbildung 1 Prozentuale und mittlere Veränderung des Alkoholkonsums unter Befragten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Erhoben für Gesamtkonsum, sowie für Frequenz, Quantität und Rauschtrinken (Wertebereich –1 bis +1); positive Werte entsprechen einer Zunahme, negative einer Abnahme des Konsums; Balken entsprechen der prozentualen Verteilung der Veränderungskategorien (keine Veränderung nicht dargestellt); Kreise und Fehlerbalken entsprechen der mittleren Veränderung gemessen anhand der kontinuierlichen Veränderungsindikatoren.

Veränderung des Alkoholkonsums nach Trinkindikator

Wie in Abbildung 1 dargestellt, ist der stärkere Rückgang in anderen europäischen Ländern vorwiegend auf Unterschiede in der Veränderung von Trinkfrequenz sowie Quantität pro Trinkgelegenheit zurückzuführen. Ein deutlicher Rückgang von Trinkfrequenz und Quantität wurde in Deutschland lediglich von 12,5 % bzw. 10,4 % der Befragten angegeben, wohingegen die jeweiligen Anteile in anderen europäischen Ländern mit 19,1 % bzw. 18,1 % fast doppelt so hoch waren (Frequenz: Chi2 = 117,8, p < 0,001; Quantität: Chi2 = 150,7, p < 0,001).

Auswertungen des aggregierten Veränderungsindikators zeigten, dass Befragte aus Deutschland zwar im Durchschnitt etwas häufiger Alkohol konsumiert haben (Mittelwert = +0,04; Standardfehler = 0,02; gewichteter Einstichproben T-Test: t = 2,7; p = 0,007), sich die Menge pro Trinkgelegenheit aber nicht verändert hat (Mittelwert = +0,01; Standardfehler = 0,02; gewichteter Einstichproben T-Test: t = 0,5; p = ,637). Im Gegensatz dazu berichten Befragte aus anderen europäischen Ländern sowohl eine Reduktion der Trinkfrequenz (Mittelwert = –0,04; Standardfehler = 0,1; gewichteter Zweistichproben T-Test: t = 5,3; p < 0,001), als auch einen Rückgang der Konsummenge pro Trinkgelegenheit (Mittelwert = –0,10; Standardfehler = 0,01; gewichteter Zweistichproben T-Test: t = 8,1; p < 0,001).

Geringere Unterschiede zeigten sich dagegen im Rauschtrinken. In Deutschland (16,5 %) und in anderen europäischen Ländern (16,0 %) berichteten etwa einer von sechs Befragten einen leichten Anstieg. Demgegenüber steht ein Rückgang des Rauschtrinkens bei fast jeder dritten Person (Deutschland: 28,7 %; andere Länder: 26,8 %). Ein ähnliches Muster zeigt sich auch im Summenscore, wonach Rauschtrinken in Deutschland (Mittelwert = –0,13; Standardfehler = 0,02; gewichteter Einstichproben T-Test: t = –9,4; p < 0,001) und in anderen europäischen Ländern (Mittelwert = –0,13; Standardfehler = 0,01; gewichteter Zweistichproben T-Test: t = 0,2; p = 0,857) in ähnlichem Maß abgenommen hat.

Veränderung des gesamten Alkoholkonsums in Bevölkerungsgruppen

Abbildung 2 zeigt die Veränderung des Alkoholkonsums seit dem Beginn der Pandemie in verschiedenen Gruppen in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Eine Reduktion des Konsums wurde vorwiegend von jüngeren, sowie Personen ohne subjektivem Stresserleben und mit niedrigen Trinkmengen berichtet.

Abbildung 2 Mittelwerte in der Veränderung des gesamten Alkoholkonsums für Befragte aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, stratifiziert nach verschiedenen Variablen. Die vertikalen gestrichelten Linien indizieren die mittlere Veränderungstendenz, wobei negative Werte auf einen Rückgang, positive Werte auf einen Anstieg des Konsums hindeuten.

Der Hauptunterschied zwischen Deutschland und anderen europäischen Ländern bestand in der durchschnittlich geringer ausgeprägten Tendenz zur Konsumreduktion. Befragte mit einem Wohnsitz im europäischen Ausland, die deutliche oder sehr starke Auswirkungen auf Beruf und Finanzen erlebten, zeigten einen geringeren Rückgang des Konsums (Mittelwert: –0,09; Standardfehler: 0,1). Im Gegensatz dazu gaben entsprechend betroffene Befragte in Deutschland an, ihren Konsum leicht gesteigert zu haben (Mittelwert: +0,14; Standardfehler: 0,05).

Die Regressionsanalysen bestätigen weitgehend die beschriebenen Unterschiede in der Veränderung des Konsumverhaltens (zum Vergleich der Koeffizienten, siehe Tabelle 2 und Abbildung 3). Aus den Ergebnissen geht hervor, dass Frauen in Deutschland ihren Konsum weniger stark reduziert haben als in anderen europäischen Ländern, wohingegen der Alkoholkonsum unter älteren Personen in Deutschland etwas stärker zurückgegangen ist. In anderen europäischen Ländern konnten weitere Risikofaktoren für einen geringeren Rückgang oder sogar Anstieg des Konsums gefunden werden, die jedoch in Deutschland keine bedeutsame Rolle spielten: ein mittlerer Bildungsabschluss, hohes Einkommen, subjektive Belastung sowie Einschränkungen im Alltag.

Abbildung 3 Standardisierte Koeffizienten aus linearen Regressionsmodellen für Befragte aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Die vertikal gestrichelte Linie indiziert die Konstante des jeweiligen Modells, beschrieben durch Befragte männlichen Geschlechts, 35–54 Jahre alt, hoher Bildung, hohem Einkommen, keiner Stresswahrnehmung, keinen Einschränkungen im Alltag, keinen negativen Auswirkungen auf Beruf/Finanzen, sowie einem mittleren AUDIT-C Summenscore. Die durchgezogenen vertikalen Linien beschreiben den Nullpunkt im Veränderungsindikator, d. h. Werte größer als diese Linie deuten auf einen Anstieg des Konsums hin. Werte kleiner als die gestrichelte Linie dagegen deuten auf eine stärkere Reduktion hin.
Tabelle 2 Ergebnisse der linearen Regression zur Veränderung des Gesamtkonsums

Der deutlichste Zusammenhang mit der Veränderung des Alkoholkonsums konnte mit der Trinkmenge ermittelt werden (siehe Abbildung 4). Befragte mit hochriskantem Konsum (AUDIT-C > 8) in Deutschland (Mittelwert: +0,15, Standardfehler: 0,05) als auch in anderen europäischen Ländern (Mittelwert: +0,16, Standardfehler: 0,03) berichteten einen Anstieg ihres Konsums.

Abbildung 4 Veränderung des Alkoholkonsums in Abhängigkeit der Trinkmenge (gemessen anhand des AUDIT-C Summenscores).

Um die Robustheit der präsentieren Ergebnisse zu testen, wurde der Zusammenhang der berichteten Veränderung des Alkoholkonsums mittels logistischen Regressionsmodellen überprüft. Aus diesen Modellen ging hervor, dass die Ergebnisse weder von der Skalierung der abhängigen Variable, noch vom Trinkindikator abhängen (siehe ESM1).

Berechnungen aus dem gemeinsamen multivariaten Regressionsmodell bestätigten, dass der Alkoholkonsum in Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern weniger stark abgenommen hat (b = 0.065; 95 % CI: 0,050–0,081).

Diskussion

Die Mehrzahl der über 40 000 Befragten in dieser Studie gaben an, seit Beginn der Pandemie weniger Alkohol zu trinken. Während die Trinkfrequenz weniger stark abgenommen bzw. in Deutschland sogar leicht zugenommen hat, ist der Rückgang vor allem auf eine Reduktion der Gelegenheiten zum Rauschtrinken zurückzuführen.

Die Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass der Alkoholkonsum in Deutschland während der Pandemie weniger stark zurückgegangen ist als in den meisten anderen Ländern Europas. Die Ergebnisse lassen mehrere Erklärungsansätze zu. Während Frauen in Europa ihren Konsum weniger reduziert haben als Männer, konnten wir für Deutschland einen leichten Anstieg des Konsums unter Frauen beobachten. Dieser Geschlechtsunterschied blieb auch nach Adjustierung für verschiedene Belastungsfaktoren signifikant, wobei wir die Belastung durch Mehrarbeit in Familie und Haushalt, welche nach wie vor hauptsächlich durch Frauen getragen wird, nicht explizit erfasst haben. In einer US-amerikanischen Studie wurde gezeigt, dass der Alkoholkonsum während der SARS-COV-2 Pandemie stärker bei Personen mit zumindest einem im Haushalt lebenden Kind angestiegen ist (Rodriguez, Litt & Stewart, 2020). Zweitens scheint der Effekt finanzieller Einschnitte auf den Alkoholkonsum in Deutschland stärker zu sein als andernorts, obwohl in Deutschland vergleichsweise wenige Befragte angaben, von finanziellen Einschnitten betroffen zu sein.

Auch nach Adjustierung konfundierender Faktoren konnte gezeigt werden, dass der Konsum in anderen europäischen Ländern stärker zurückging als in Deutschland. Dies entspricht früheren Tendenzen, wonach der Pro-Kopf-Konsum in Deutschland in den letzten Jahren nicht in dem Maße zurückgegangen ist wie im europäischen Mittel (Manthey et al., 2019; Probst et al., 2020). Da Personen, die im Zusammenhang mit der Pandemie finanzielle Einbußen erlebt haben, vermehrt Alkohol tranken, geben unsere Ergebnisse Hinweise darauf, dass negative Auswirkungen auf Beruf oder Einkommen eine Form von Stress darstellen, die einen Mehrkonsum begünstigen können. Dass die Auswirkungen nicht zu einem Rückgang des Konsums aufgrund verminderter Kaufkraft geführt haben, könnte auf die vergleichsweise niedrigen Preise für alkoholische Getränke zurückzuführen sein (WHO, 2020a). So wird z. B. in Deutschland der Spielraum bei der Besteuerung alkoholischer Getränke nicht umfänglich genutzt (keine Alkoholsteuern auf Wein, Bier geringer besteuert als Spirituosen, keine Anpassung der Steuern an Inflation (Manthey, Kilian & Rehm, im Druck).

Eine Abschätzung des Gesamteffekts auf den Pro-Kopf-Konsum ist nicht ohne weiteres möglich. Während Personen mit einem risikoarmen Konsum seit Beginn der Pandemie eher weniger tranken, hat sich der Konsum bei Personen mit riskantem Konsummuster erhöht. Da ein Großteil des absoluten Alkoholkonsums auf eine Minderheit von Trinkenden zurückzuführen ist, wäre ein seit 2011 erstmaliger Anstieg des Pro-Kopf-Konsums in Deutschland nicht überraschend (WHO, 2020b). Die im Vergleich zum Jahr 2010 vereinbarten internationalen Ziele zur 10 %igen Reduktion des Pro-Kopf-Konsums bis zum Jahr 2025 werden vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung schwer zu erreichen sein (Probst et al., 2020; WHO, 2013).

Bei Personen mit riskantem Konsum geht ein Anstieg der Trinkmenge mit einer beträchtlichen Steigerung der Gesundheitsrisiken einher. Die eingeschränkte Gesundheitsversorgung während der Pandemie könnte den ohnehin verbesserungswürdigen Zugang zur medizinischen und psychosozialen Versorgung von Personen mit einer Alkoholkonsumstörung weiter verschlechtern. So war beispielsweise ein stationärer Alkoholentzug im Frühjahr 2020 aufgrund einer Priorisierung anderer Krankenhausleistungen in der Regel kaum möglich. Es besteht die Gefahr, dass gesundheitliche Ungleichheiten verstärkt werden, wenn vulnerable Gruppen mit riskantem oder starkem Konsum in der Pandemie nicht nur mehr konsumieren, sondern gleichzeitig auch einen erschwerten Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten haben. Die Durchführung von Alkoholscreenings in der allgemeinärztlichen Versorgung könnte einen direkten Beitrag dazu leisten, Personen mit starkem Konsum zu identifizieren und entsprechend der S3-Leitlinien zu versorgen (Mann & Batra, 2016).

Limitationen

Die Ergebnisse dieser Studie sollten vor dem Hintergrund folgender Limitationen interpretiert werden: 1) Die gezogene Stichprobe ist nicht repräsentativ für die deutsche oder europäische Bevölkerung, was in modernen Online-Umfragen ein bekanntes Phänomen ist (Rehm, Kilian, Rovira, Shield & Manthey, 2020; Rothman, Gallacher & Hatch, 2013). Wann immer Schlussfolgerungen bezüglich der Allgemeinbevölkerung gezogen wurden, wurden Umfragegewichte berücksichtigt, um die erhobene Bevölkerungsverteilung an die tatsächliche anzupassen. Die deutsche Teilstichprobe war weniger verzerrt und die Verteilung der 12-Monats-Prävalenz decken sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen aus Deutschland und validieren damit unsere Stichprobenziehung (Atzendorf, Rauschert, Seitz, Lochbühler & Kraus, 2019). Jedoch geht aus dem Vergleich der AUDIT-C Mittelwerte mit einer Befragung aus dem Jahr 1996/97 (letzte verfügbare Daten: Moehring et al., 2019) hervor, dass die Befragten aus Deutschland in unserer Studie eher höhere Trinkmengen berichten. Insgesamt ist davon auszugehen, dass bestimmte, insbesondere vulnerable Gruppen nicht berücksichtigt wurden, was allerdings auf die meisten Umfragen zum Thema Alkoholkonsum zutrifft (Rehm et al., 2020) und beeinträchtigt insofern nicht die Gültigkeit der präsentierten Ländervergleiche. 2) Die Annahmen für die Auswertung der Veränderungsindikatoren erscheinen grundsätzlich plausibel und konnten anhand der konsistenten Zusammenhänge in den unterschiedlichen Stichproben bestätigt werden. Der gebildete Summenwert des Veränderungsindikators ist jedoch abhängig von bestehenden Trinkmustern und der Anstieg in einem Indikator (z. B. Trinkmenge) muss nicht zwangsläufig durch den Rückgang in einem anderen Indikator (z. B. Rauschtrinken) ausgeglichen werden. Daher sollte der Veränderungsindikator so interpretiert werden, dass mit zunehmender Abweichung von Null eine entsprechende Veränderung des Konsums zu erwarten ist. Weitere Untersuchungen sind erforderlich, um Veränderungen im Konsumverhalten genauer zu quantifizieren. 3) Der Summenscore entspricht einer ordinalskalierten Skala, sodass eine Auswertung mittels T-Test und linearer Regressionsanalysen streng genommen gegen die Anwendung dieser Verfahren verstößt. Jedoch haben die Sensitivitätsanalysen gezeigt, dass die Ergebnisse nicht von der Skalierung der abhängigen Variable beeinflusst wurden. Zudem konvergierten die Trends im verwendeten Summenscore mit der Verteilung der zugrundeliegenden Angaben hinsichtlich der Veränderung in den jeweiligen Indikatoren, was die Verwendung des Summenscores als kontinuierliche Variable stützt.

Schlussfolgerung

Seit Beginn der Pandemie scheint der Alkoholkonsum in Deutschland bei vielen Personen zurückgegangen zu sein, jedoch weniger stark als in den meisten anderen europäischen Ländern. Ein Anstieg des Konsums wurde von Frauen sowie Personen, die negative Auswirkungen in Beruf und Finanzen erlebt haben und von Personen mit riskanten Konsummustern berichtet. Um negativen Folgen vorzubeugen, sollten die Verfügbarkeit von Alkohol durch eine sinnvolle Besteuerung reduziert sowie routinemäßige Alkoholscreenings in der allgemeinärztlichen Versorgung ausgeweitet werden.

Elektronische Supplemente (ESM)

Die elektronischen Supplemente sind mit der Online-Version dieses Artikels verfügbar unter https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000686

Literatur

Jakob Manthey, Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Technische Universität Dresden, Chemnitzer Straße 46, 01187 Dresden, Deutschland, E-Mail